Meine Schritte prallen auf den Asphaltboden und ich keuche vor Anstrengung, doch
ich weiß, dass mir keine andere Wahl bleibt als zu fliehen und mich zu verstecken. Mein Ziel
ist einer der letzten Wälder, die hier in der Gegend existieren. Eine Erinnerung geht mir
durch den Kopf, eine Erinnerung an meine Kindheit, in der noch alles anders war. Als ich
noch draußen spielen konnte, zur Schule gegangen bin und mir die typischen Teenagersorgen
und -gedanken gemacht habe. Doch das ist vorbei - die Realität könnte nicht weiter davon
entfernt sein. Durch die Umweltzerstörung und Klimaerwärmung haben sich von einem auf
den anderen Tag alle Katastrophen vervielfacht und verstärkt. Das Ergebnis?
Nahrungsknappheit, Hungersnot und Menschen, die alles tun, um irgendwie zu überleben.
Zusammenbruch der verschiedenen Staatssysteme, jetzt gilt jeder gegen jeden im Kampf ums
Überleben. Morde, Diebstähle und Verbrechen sind nicht mehr ungewöhnlich, sondern der
Normalfall. Angst vor allem und jedem. Ich nähere mich dem Waldanfang und versuche
irgendwie unbeschadet und schnellstmöglich tiefer in den Wald zu kommen ohne über die
Wurzeln zu stolpern oder im Matsch auszurutschen. „Bleib stehen oder ich schieße!“ ruft eine
Männerstimme hinter mir aus etwas Entfernung. Doch ich weiß, was dann kommt - mich
ausrauben und vermutlich auch umbringen. Ich renne noch schneller, obwohl ich jetzt schon
fast stolpere. Ein lautes Knallen und ich ducke mich reflexartig. Geduckt haste ich weiter und
springe einen kleinen Abhang hinunter. Dann krieche ich unter ein paar Büsche. Die Schritte
meines Verfolgers kommen näher und verstummen schließlich. Ich halte fast die Luft an, um
meinen Atem irgendwie unter Kontrolle zu bekommen. Es ist totenstill. Dann höre ich wieder
das Laub rascheln und langsam leiser werden, mein Verfolger entfernt sich, doch ich bleibe
liegen. Ich weiß, dass das auch eine Taktik sein könnte, sich ein Stück entfernt zu verstecken
und zu beobachten, wann ich die Geduld verliere und aus meinem Versteck komme. Doch
ich verharre auf dem Boden und mein Herzschlag beruhigt sich langsam. Ich spüre ein
Stechen in meinem Bein und drehe mich gerade weit genug, um die Dornenranke
wahrzunehmen, die in meinem Bein steckt. Durch das Adrenalin und meine Flucht hatte ich
gar nicht bemerkt, was passiert war. Vorsichtig taste ich mich mit meiner Hand bis zu
meinem Bein und versuche mich so zu drehen, dass ich mehr sehen kann, doch vergeblich..
Die Äste über mir und das schwache Licht, das bis zum Waldboden dringt, schränken meine
Handlungsfähigkeiten ein. Also muss es so funktionieren. Ich greife noch etwas weiter nach
unten und zucke zusammen, als sich eine Dorne in meinen Finger bohrt. Ich ziehe meine
Hand zurück und ich spüre die Wärme des Blutes, das über meinen Finger läuft. Ich kneife
meine Augen zusammen und atme tief durch, denn ich weiß, dass mir keine Wahl bleibt.
Langsam schiebe ich meine Hand wieder nach unten und greife nach der Dornenranke.
Erneut spüre ich die Dornen in meiner Hand, doch dieses Mal ziehe ich sie nicht zurück,
sondern presse meine Zähne aufeinander und packe fester zu. Dann ziehe ich die Ranke
ruckartig von meinem Bein weg und muss einen Schrei unterdrücken, als mich der Schmerz
durchzuckt. Doch mein Verfolger könnte immer noch auf mich lauern, weshalb ich mich
möglichst still verhalten muss. Ich warte in meinem Versteck bis zum Einbruch der
Dämmerung, vermutlich ein paar Stunden nach meiner Flucht. Dann krieche ich vorsichtig
unter dem Gebüsch hervor und laufe geduckt zwischen den Bäumen entlang. Als ich zu einer
Schlucht komme, die ein paar Meter tief ist, klettere ich vorsichtig bis zu ihrem Boden und
verschwinde dann in einem Höhleneingang. Das ist seit ein paar Monaten mein Versteck,
eine kleine Höhle an einem scheinbar unerreichbaren Ort. Ursprünglich war ich mit meinem
Bruder hierher geflüchtet, doch als wir an einem Tag unterwegs waren, um unsere Vorräte
aufzufüllen, wurden wir ebenfalls verfolgt. Er wollte mich schützen und den Verfolger
ablenken, doch er wurde schwer verwundet und verstarb wenig später. Meine Augen füllen
sich bei dem Gedanken an ihn mit Tränen und ich muss ein Schluchzen unterdrücken. Er ist
der einzige Grund, dass ich mich durch jeden Tag kämpfe, denn ich weiß, dass er wollen
würde, dass ich lebe. Aber die Einsamkeit unterdrückt alle Freude darüber, dass ich noch am
Leben bin. Im Normalfall verlasse ich den Schutz des Waldes nicht, doch auf die Suche nach
weiteren mir bekannten Überlebenden und der Wunsch nach etwas Gesellschaft hat mich
unvorsichtig gemacht. Immer öfter finden diese Gedanken einen Weg in meinen Kopf, diese
Fragen danach, was das Leben wert ist, wenn man alleine ist, was Glück bedeutet, wenn
niemand da ist, mit dem man es teilen kann. Ich stolpere noch ein Stück in die Dunkelheit
und ziehe dann mein Feuerzeug aus der Tasche, um ein Feuer mit etwas Holz aus meinem
Vorrat anzuzünden. Dann rolle ich ein paar größere Felsbrocken vor den Eingang. Als ich mit
meinem Fuß auftrete, durchzieht mich erneut der Schmerz in meinem Bein und ich humple
vorsichtig ein Stück ans Feuer heran, um meine Wunde zu begutachten. Meine verdreckte
Hose hat Risse und ist blutverschmiert. Ich ziehe sie vorsichtig aus und reinige die Wunde mit
ein wenig Wasser. Dann nehme ich mir eine der beiden anderen Hosen, die ich besitze und
streife sie über. Mein Vorrat ist wieder kleiner geworden und müsste langsam nachgefüllt
werden. Ich habe immer so viel in der Höhle, dass ich, wenn ich sparsam bin, mehrere Tage ohne ein Verlassen der Höhle auskommen würde, wie viele genau, weiß ich nicht. Zum
Einen, weil ich noch nie länger als drei Tage am Stück hier unten bleiben musste und zum
anderen, weil die Genauigkeit von Zeit keine Rolle mehr spielt. Der tägliche
Überlebenskampf hat den einzig positiven Aspekt, dass er dankbar macht. Man beginnt, für
den Moment zu leben und versteht, dass nichts selbstverständlich ist. Ich finde es schade, dass es so weit kommen musste, damit ich dankbar für das geworden bin, was ich habe. Und das, obwohl ich so viel weniger habe als früher. Ich setze mich nah ans Feuer und mir wird
langsam wieder warm. Ich kuschle mich tiefer in meinen Pullover und meine Augen fallen
mir zu. Ich schlafe ein.
Deborah Todebusch