Helligkeit. Das ist alles, was ich bemerke, als ich langsam die Augen öffne. Wo zum Teufel bin ich?! Nachdem ich mit zusammengekniffenen Augen versucht habe, irgendetwas zu sehen, bin ich verwirrt. Die Straße, in der ich stehe, kommt mir nur vage bekannt vor. Ich gucke noch einmal von links nach rechts und lasse alles auf mich wirken, was ich sehe – und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Ich kenne diesen Ort. Ich wohne hier. Oder zumindest wohne ich in der Version der Straße, die ich aus meinem Leben kenne. In der Straße mit den gepflegten Vorgärten, den Autos, die überall in den Einfahrten parken und den Menschen, die über den breiten Bürgersteig flanieren und mich immer freundlich grüßen und herzlich anlächeln, wenn ich auf dem Weg in den angrenzenden Wald an Ihnen vorbeigehe. Von dieser gemütlichen Vorstadt ist nichts mehr zu spüren. Obwohl es unendlich heiß ist, hört man nirgendwo Kinder, die gemeinsam spielen und zusammen ein Eis essen. Alles ist still. Keine Vögel, keine Rasenmäher oder Sägen, mit denen mein Nachbar früher selbst zu unmöglichen Zeiten sein Holz zerkleinert hatte. Je länger ich die Umgebung betrachte, in der ich stehe, desto unwohler und schockierter fühle ich mich. Ich sehe keine Autos, keine Menschen – und nichts Intaktes. So dumpf sich das auch anhören mag; alles in der ehemals so ordentlichen und schönen Straße ist kaputt. Die Häuser, die eigentlich modern aussehen sollten, haben kaputte Dächer und Fassaden. Die Pflanzen vor den Häusern, die Vorgärten der ursprünglich schnuckeligen Einfamilienhäuser: alles sieht aus, wie von einem Sturm verwüstet. Obwohl die Blätter an den wenigen Bäumchen, die nicht in Kleinteilen auf der Straße und dem Bürgersteig liegen, anhand der mehr als sommerlichen Temperaturen eigentlich saftig grün aussehen sollten, sind sie braun und verdorrt. Als ich die Sonne brennend auf meinem Kopf spüre und merke, dass mir Schweißperlen über Stirn und Rücken laufen, weiß ich auch, wieso: Es sind gefühlte 45 °C. Da ich mich mehr und mehr verloren fühle und die stechende Hitze langsam unerträglich wird, überlege ich, was ich machen soll. Egal, wie ich hier hingekommen bin, weiter rumstehen ist definitiv keine Option. Unschlüssig sehe ich mich um. Was ist, wenn ihr überhaupt niemand ist? Da hier alles anders aussieht, als ich es kenne, bin ich vielleicht in einer anderen Zeit. Oder einer anderen Dimension… wer weiß das schon. Schluss damit. Entschlossen schüttele ich alle spekulativen Gedanken ab, die mir jetzt sowieso nicht weiterhelfen, und laufe mit festen Schritten auf meine Haustür zu. Oder eben das, was mal meine Haustür war… Ich setze an, meinen Finger zum Klingeln zu heben, und halte inne. Dort steht nicht unser Familienname, sondern „Schmitz“ auf dem Schild. Langsam steigt Panik in mir auf. Was ist das alles hier? In einer Kurzschlussentscheidung und aus einem offensichtlichen Mangel an Alternativen drücke ich auf die Klingel und warte. Nach einigen Sekunden sehe ich hinter der Tür einen Menschen näherkommen. Plötzlich wird die Tür aufgerissen und ich sehe eine Frau mit hoffnungsvollem Gesichtsausdruck, aber erschreckend heruntergekommener Kleidung im Türrahmen. Als sie mich erblickt, verwandelt sich dieser offene Ausdruck in Skepsis und ihr Gesicht verschließt sich. Obwohl ich mich dadurch noch schlechter fühle, versuche ich irgendwie zu verstehen, was hier gerade passiert. „Hallo, mein Name ist Maja. Meine Familie und ich haben hier mal gewohnt. Jetzt bin ich irgendwie hierhin gekommen… Vielleicht habe ich mir den Kopf gestoßen, jedenfalls bin ich verwirrt und weiß nicht, was ich machen soll. Kann ich vielleicht reinkommen und versuchen, jemanden anzurufen?“, frage ich freundlich und bemühe mich, ein verbindliches und vertrauenswürdiges Lächeln aufzusetzen. Obwohl die Frau immer noch nicht wirklich gelöst aussieht, haben meine Schauspielkünste wohl gewirkt, da sie mir mit den Worten „Schmitz. Wenn Sie möchten, kommen Sie rein.“ die Türe aufhält und mich in den Flur eintreten lässt. Ich mache einen selbstbewussten Schritt in den mir vermeintlich bekannten Flur. Ein Fehler. Als ich mich umsehe, schießen mir bittere Tränen in die Augen. Alles, was dieses Haus früher so wohnlich hat wirken lassen, ist verschwunden. Keine Tapeten in Erdtönen und abgeschliffene Dielen, keine Holzbalken. Die spärlichen und alten Möbel, die ich in Flur und Esszimmer sehen kann, stehen praktisch in einer Art Rohbau. An den Wänden befinden sich nur noch einzelne Tapetenfetzen, Teile der Wände sind verschimmelt und der schöne Dielenboden ist verschwunden und legt einen unebenen, dreckigen Betonboden frei, auf dem zu allem Überfluss noch eine Matratze liegt, die wirklich so aussieht, als würde jemand regelmäßig darauf schlafen. Schockiert drehe ich mich zu der Frau um. „Was ist denn hier passiert?!“. Überrascht guckt die Frau mich an und antwortet: „War es bei Ihnen etwa nicht so schlimm? Im Fernsehen wurde berichtet, dass ganz Deutschland von dem Riesensturm betroffen war!“. Bei jedem neuen Wort, das aus dem Mund der Frau kommt, fühle ich mich mehr entwurzelt. Mit diesen zusammenhangslosen Informationen kann ich überhaupt nichts anfangen, im Gegenteil: sie machen mir eine Heidenangst. Ich muss mehr herausfinden. Unauffällig lasse ich meinen Blick vom Esszimmer aus über alle angrenzenden Räume schweifen. Als ich beim Kalender in der Küche angekommen bin, kneife ich meine Augen zusammen. Das kann nicht sein. Das geht einfach nicht. Nachdem sich die Zahl, die ich da sehe, auch nach mehreren Sekunden Starren nicht ändert, sickert die Erkenntnis langsam bis in mein Herz. Ich bin im Jahr 2100. Und dann bin ich ganz still. Irgendwie kann ich mich nicht mehr bewegen. Vielleicht bin ich ohnmächtig geworden. Als die „2100“ langsam wieder vor meinen Augen auftaucht und ich immer noch stehe, bemerke ich, dass das wohl doch nur der Schock war. Ich höre in mich hinein und überlege, was ich aus diesem Wissen jetzt machen soll. In was für einer Psycho-Vorstellung bin ich hier eigentlich gelandet?!
Klick. Das macht es wirklich. Es fühlt sich so an, als wäre irgendwo tief in meinem Inneren ein kleines Teil an die richtige Stelle gerückt und würde nun einem ganz großen Puzzle das letzte, entscheidende Stück verleihen. Wieso habe ich da nicht schon früher dran gedacht? Wäre die Situation nicht so absolut traurig, hätte ich über meine eigene Begrenzung und Dummheit lachen müssen. Ich bin mittendrin in dem, wovor ich zuhause – in dem Zuhause, das ich kenne- so viel Angst hatte. Was mich dazu gebracht hat, meinen ökologischen Fußabdruck zu verkleinern, unverpackte Produkte ohne Plastik zu kaufen und kein Palmöl und Fleisch mehr zu essen. Klimawandel. Die einzig logische Erklärung, die kein Science-Fiction und Aliens beinhaltet. Etwas in mir zerbricht, als ich realisiere, dass all die Maßnahmen wohl nichts gebracht haben. Ich bin mittendrin im schlimmsten Albtraum der Menschheit. Ein Wunder, dass die Erde hier, 2100, überhaupt noch existiert. So oder so: ich muss mehr erfahren. Offensichtlich kann man auf der Erde noch leben, sonst würden Frau Schmitz und ich vermutlich nicht hier stehen. Aber wie steht es um die Erde wirklich? Kurzentschlossen entscheide ich mich, einfach zu fragen und die Wahrheit zu sagen. Naja – den Teil, indem ich mich als 16-Jährige an die Welt im Jahr 2019 erinnere, lasse ich wohl besser weg, wenn ich nicht in Zwangsjacke abgeführt und eingesperrt werden will. Also hole ich tief Luft und wähle die Flucht nach vorne. Schließlich hatte Frau Schmitz mich vor gefühlten 1000 Lichtjahren etwas gefragt, und nach einem Seitenblick sehe ich, dass sie mich immer noch erwartungsvoll ansieht. „Wie gesagt: ich glaube, dass ich mir meinen Kopf gestoßen habe. Außer meinen Namen weiß ich nicht mehr viel, um ehrlich zu sein. Könnten Sie mir eventuell erklären, was hier passiert ist?“. Mein ehrlich verzweifelter Gesichtsausdruck muss Frau Schmitz überzeugt haben, denn Sie lächelt mich mitfühlend an und antwortet: „Naja, ich denke, ich fange am besten von vorne an. Schon vor weit über hundert Jahren wurde das alles hier prognostiziert. Es gab zwar einige Menschen, die die Probleme nicht wahrhaben wollten, aber die meisten haben eingesehen, dass die Menschen durch ihren Überkonsum von wirklich allem langsam aber sicher die Erde zerstören. Trotzdem haben damals viel zu wenige Menschen ihr Leben wirklich geändert und bewusst auf ihre Umwelt geachtet. Das Ego der Menschen und ihr bescheuerter Anspruch, immer alles einfacher, schneller und besser zu machen stand dem ganzen im Weg.“ An dieser Stelle lächelt sie müde. „Die lächerlichen Beschränkungen zu Emissionsaustauschen waren viel zu locker. Und dann ist alles unaufhaltbar schlimmer geworden. Die Emissionen sind nicht normal, sondern fast schon exponentiell gestiegen. Und jetzt haben wir den Salat. Irgendwann war es zu spät, um noch irgendetwas vernünftiges zu tun. In Afrika sind die Temperaturen in 100 Jahren um über 7 °C gestiegen. Es gibt kaum Niederschläge, die Ernten sind grauenvoll. Millionen von Menschen sind dort schon an Wasser- und Nahrungsmangel gestorben, und es wird nicht besser. In Deutschland ist es anders. Die Wetterextreme sind immer häufiger geworden. Letztes Jahr hatten wir so starke Regenfälle, dass die Kanalisationen versagt haben und Gebäude vollgelaufen sind. Deswegen mussten wir alles ausräumen. Den entstandenen Schaden konnten wir nicht beheben, weil uns das Geld fehlt. Wir mussten die Familie meiner Schwester aufnehmen, weil sie in der Nähe von Hamburg gewohnt haben, was aber längst vom Meer überflutet wurde. Die Sturmschäden zu beheben, wäre mittlerweile viel zu viel Arbeit. Wir müssen sowieso schon sehen, wie wir über die Runden kommen, und ohne höherklassigen Job mit richtig gutem Gehalt ist es verdammt schwierig, an Essen zu kommen. Autos wurden für Privatpersonen ohne Sondergenehmigung verboten, es gibt keine Schiffe, die uns Nahrung importieren könnten. Es war ein langer und steiniger Weg, Deutschland und Deutsche zu Selbstversorgern zu machen, aber es geht mittlerweile.“ Wenn ich mir ihren abgemagerten Körper anschaue, frage ich mich ernsthaft, wie genau. „Das schlimmste sind die Kranken. Mikroplastik wurde verboten, aber es ist schon überall. Diese Arten von Krebs lassen sich nur schwer behandeln…“. Langsam kullert eine Träne meine Wange herunter. Krebs. Scheiße. Wie konnte es nur so weit kommen? Alles fängt an, sich zu drehen, und dann ist da nur noch Dunkelheit. Als ich meine Augen wieder öffne, fällt mir ein Stein vom Herzen. Oder ein ganzes Gebirgsmassiv. Ich bin in meinem Bett. Zuhause. Draußen regnet es zwar, aber es ist ein moderater Regen. Keine Sturmschäden. Ein trauriges Lächeln umspielt meine Lippen, und ich lasse mich zurück auf mein Kissen fallen.
Warum ökologische Dystopie?
Als ich mich entscheiden musste, welche Utopie ich entwerfen will, wollte ich zunächst eine Eutopie beschreiben, in der sich die Herzen der Menschen geändert haben und totaler Frieden herrscht, da ich das als einen tiefen, inneren Wunsch von mir angesehen habe. Dann habe ich aber darüber nachgedacht, welche Zukunftsvorstellungen oder Möglichkeiten mein jetziges Leben am meisten beeinflussen. Nachdem ich ehrlich über diese Frage nachgedacht habe, bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass das für mich auf jeden Fall der Klimawandel sein muss. Der Klimawandel ist die zentralste und größtmögliche schleppende Bedrohung der Menschheit und ist auf ganz lange Sicht vielleicht in der Lage, die gesamte Menschheit und einen Großteil der Artenvielfalt auf der Erde zu zerstören. Tausende Ökosysteme geraten in Ungleichgewicht, Menschen verlieren ihr Zuhause und müssen sich um Nahrung sorgen. Das ganze Versorgungsnetz der Bundesrepublik Deutschland ist auf Importe von Essen ausgelegt; praktisch niemand könnte sich ohne die Produkte vom Supermarkt um die Ecke ernähren. Diese Auswirkungen sind nur den wenigsten Menschen bewusst, da man im Alltag nie die direkten Auswirkungen seines Handelns erfährt, sondern diese vermeintlich weit weg in der Zukunft liegen. Mit dieser dystopischen Darstellung wollte ich mir auch selbst die schlimmstmöglichen Folgen meines heutigen Handelns aufzeigen.
Ich habe die Gestaltung bewusst so gewählt, dass der Erzähler in einem Traum aufwacht und so auf einen Schlag alle Veränderungen in der Welt registriert. Diesen Schock fand ich sehr wichtig, damit die Tragweite des Problems herausgestellt wird und sich keine schleppende Resignation einstellen kann (so wie es gewesen wäre, wenn der Erzähler vorher schon in der Welt im Jahr 2100 gelebt hätte). Weitergehend war es mir wichtig, den Schwerpunkt der Erzählung auf die dystopischen Auswirkungen der ökologischen Katastrophe auf das Leben des einzelnen zu legen und nicht auf den Gesamtzustand der Welt. Dieser ist zwar wichtig und wird daher auch beschrieben, jedoch bewegt die meisten Menschen immer dasjenige am meisten, das sie selbst am besten verstehen, greifen und auf sich selbst angenommen, weshalb die verschiedenen Auswirkungen am Beispiel der Figur der Frau Schmitz erläutert wurden – in der Hoffnung, dass diese Erkenntnis bei mit selbst und bei anderen Menschen etwas bewegt und hilft zu verstehen, dass es an uns liegt, etwas zu tun.
Maja Tenzer